Vom Geist der Weihnacht

Anselm ging nach einer harten Nacht wie üblich in das weithin sichtbare Rathaus.

Er hatte sich gestern ungewöhnlich offen mit der Ratsfrau Carina und dem Ratsherrn Frederic gestritten. Diese waren Freunde des Ratskellerwirtes. Anselm hatte dem Wirt gekündigt. Während Anselm das „Gezeter der Ratsleute“ gewöhnlich nicht störte, hatte er sich dieses Mal sehr über die aufmüpfige Art geärgert.

‚Wie können sie es sich anmaßen, meine Entscheidung infrage zu stellen?‘ fragte Anselm in sich hinein. Jedoch, die Ratsleute hatten ein gespenstisch großes Wissen. Es müsse einen Verräter im eigenen Hause geben. Woher wussten sie, dass ein Freund Anselms auch gern den Ratskeller betreiben wolle?

‚Na wartet, das werde ich herausfinden und dann Gnade Euch Gott‘, dachte sich Anselm und betrat den großen Saal vor seinem Salon. Hier standen sie alle. Seine Bediensteten, ein paar Ratsleute und ein paar einfache Bürger.

Aber sie waren seltsam beschwingt, sie schienen etwas zu feiern. Warum war Anselm nicht eingeladen? Was war hier los?

„Was ist das für eine gute Stimmung hier? Warum wird hier nicht gearbeitet?“, Anselm drehte sich verwundert um. Aber keiner schien ihn wahrzunehmen, keiner reagierte auf seine bösen Blicke. Normalerweise würden sie sofort nach einem kurzen Zucken pflichtbewusst das Weite suchen und ihrer Geschäfte nachgehen. Doch nichts geschah. Anselms scharfer Blick durchstreifte den Raum, keiner schien ihn wahrzunehmen. Irritiert ging er in seinen Salon, welcher direkt unter dem weithin sichtbaren Wasserturm des Schlosses lag.

„AAAANSEEELM!“ rief eine dunkle sonore Stimme langsam in den Raum. Anselm zuckte zusammen und versuchte die Quelle des Rufes zu finden. Langsam erschien aus der Decke ein seltsames Wesen, welches nur schemenhaft der Gestalt eines Menschen glich und aus Wasserdampf zu bestehen schien. Nur wenige Schritte von Anselm entfernt, schwebte es vor ihm. Ohne dass sich ein Gesicht oder ein Mund zeigte, sprach es weiter:

„Ich bin der Geist der Vergangenheit. Erinnerst Du Dich? Du hast gestern beim Streit mit Carina und Frederic geschrien, Du wünschtest, Du wärest nicht hier.“

Anselm erinnerte sich. Tatsächlich hatte er sich so sehr über die Ratsherren geärgert, dass er nicht an sich halten vermochte.

„Das mag ich gesagt haben, aber ich meinte, dass ich lieber im fernen Angelsachsen geblieben wäre, wenn ich gewusst hätte, wie hier in meiner schönen Neuenburg Geld für Kinder und Schwache ausgegeben werden soll und Liebe und Freundlichkeit wichtiger ist als unser aller Wohlstand und viel Geld!“

„Mein lieber Anselm, die Worte höre ich wohl, indes kann ich nicht glauben, was Du sagst“, sprach der Wassergeist in ruhigem Ton, „so hast Du früher nie gesprochen. Glaubst du wirklich, dass es Deine Aufgabe ist, aus Neuenburg ein reiches Schloss mit einem darbenden Volk zu machen?“

Anselm zog die Stirn in Falten.

„Was erlaubst Du Dir, mich zu kritisieren? Haben Dich denn die Bewohner von Neuenburg gewäh…“

„SCHWEIG STILL!“ donnerte es durch den Salon. Mit einem starken Meeresrauschen tauchten zwei zu Händen geformte Wasserwellen aus dem Wesen auf und schleuderten Anselm aus seinem Büro in den großen Saal.

„Siehst Du, wie fröhlich die Menschen sind? In dieser Welt fand heute die Wahl statt. Da du nicht da warst, wurde Ida zur Burgherrin gewählt und alle Menschen freuten sich.“ Anselm blickte sich um. Tatsächlich erkannte er jetzt Ida, er hatte sie ob ihrer zierlichen Gestalt wohl übersehen. Sie stand in der Mitte der Bediensteten und erhob ihr Glas, welches im Rhythmus ihrer Worte wippte:

„Liebe Freunde, ich danke Euch für die wohligen Worte und werde alles daran tun, die Probleme von Neuenburg zu lösen. Wir haben Fehler gemacht und müssen wieder gut machen. Unsere Kinder haben die neue Schule verdient. Aber ich brauche Euch! Ich bin nur der erste Diener und die Gelehrten mögen mich beraten.“

„Was wagst Du es, hier im Ratsschloss zu sprechen! Du bist doch schuld, dass die Schule nicht gekommen ist…“, schrie Anselm Ida an.

„Sie kann dich nicht hören“, sprach das Wasserwesen mit ruhiger Stimme. „Aber ist es wirklich so? In dieser Welt bekommt Neuenburg seine Schule und behält die Schule für besondere Kinder. Ida hat bei Fürst Gerhart bereits ihre Aufwartung gemacht und um Hilfe gebeten.“

„Nein, sie hat sich verkauft.“

„Ist es so? Hast Du nicht für den neuen Handwerkerhof auch Fürst Gerhart um Hilfe gebeten? Höre ihr zu Anselm!“

Und Ida sprach: „Liebe Freunde, liebe Helfer. Fürst Gerhart hat mir versprochen, die Schulen zu bauen. Er mag seltsam sein, aber das können wir nicht ändern. Unsere Kinder brauchen ihre Schulen!“

„Schwaches Weib! Du bist nur ein schwaches…“

Plötzlich breitete sich schnell weißer Nebel aus und lichtete sich sofort wieder. Anselm fand sich in seinem Bett wieder und sah sich um.

„Gott sei Dank, es war nur ein Traum“, entfuhr es Anselm. Aber ach, er hätte schon lange am Markt sein müssen. Geschwind zog er sich an, schwang sich auf sein Pferd und ritt zum Mittelpunkt von Neuenburg. Wie immer herrschte geschäftiges Treiben.

Bauern boten ihre Feldfrüchte an und Handwerker ihr Produkte. Früher gab es noch viel mehr Händler, aber die Pest hatte das Leben lange Zeit zum Erliegen gebracht. Nur langsam kamen die fliegenden Geschäftsleute zurück in die Burg.

„Fällt Dir etwas auf, Anselm?“

Anselm zuckte zusammen. Neben ihm stand ein Pferd, und es schien, die hohe, fast kreischende Stimme kam aus seinem Kopf.

„Ja, sieh‘ mich ruhig an, ich bin der Geist der Gegenwart.“, hörte er das Pferd mit mahlenden Bewegungen des Gebisses sagen. Anselm rieb sich die Augen. Sprach da wirklich ein Zossen zu ihm?

„Was meinst Du?“

„Siehst Du nicht, dass die Versammlung der verärgerten Bürger fehlt?“ Anselm sah sich um. Tatsächlich fehlten die Bürger, die sich jeden ersten Tag der Woche über die überfüllten Wege und kaputte Pfade vor der Burg beschwerten. „Die interessieren mich nicht mehr, aber gut, dass sie weg sind.“

„Fragst Du Dich nicht, was passiert ist?“

„Eigentlich nicht, aber Du sagst es mir bestimmt gleich trotzdem.“, entgegnete Anselm launisch.

„Oh ja, das werde ich,“ wieherte das Pferd, „nachdem Bürger von den Dörfern vor dem Schloss die Rechtsgelehrten um Hilfe fragten, haben sie die Burgherrin Ida dazu verpflichtet, neue Straßen und Wege zu bauen. Das hat sie getan. Sie hat mit allen Bürgern gesprochen, die Wege gebaut und die Bürger wurden friedlich.“

„Aber das habe ich doch auch getan!“

„Hast Du das wirklich? Du hast nach dem Ausspruch des hohen Rates der Gelehrten hast du nur noch deine Idee verfolgt und sogar das getan, was Du immer abgelehnt hast. Du hast wieder dafür gesorgt, dass Neuenburg wuchs und noch mehr Bürger kamen. Und zum Schluss hast Du sogar nur, weil Du mit einigen Ratsleuten eine Fehde hattest, ihre Ideen abgelehnt. Ida hingegen hat mit allen gesprochen. Die Burgenländer können bald unter dem dampfenden Stahlross hindurchfahren und die Kutschen und Pferde bleiben nicht mehr im Verkehr stecken.“

„Aber das ist doch Unsinn. Ich sprach mit allen Bürgern und habe Straßen gebaut! Der Wahnwitz von Ratsherr Frederic zum Bau einer großen Straße um die Dörfer herum, ist ein Luftschloss. Viel wichtiger ist der neuartige Handwerkerhof. Der ist wichtiger als alles andere. Auch wichtiger als Schulen, die können wir später bauen.“

„Wirklich? Wolltest Du nicht selbst mal die große Straße? Und sind nicht alle Probleme wichtig? Ida hat mit allen gesprochen: Carina, Frederic, aber auch mit deinen Gefolgsleuten Kaius und Martha. Gemeinsam haben Sie eine Lösung gesucht und die Probleme gelöst, Fürst Gerhart baut in dieser Welt die Schule zwischen Neuenburg und Zossenhof. Meinst Du nicht, es ist ein Versuch wert?“

„Lass mich in Ruhe! Und den Verräter Frederic will ich nicht mehr sehen, er war verpflichtet, mich zu schützen und mir zu dienen. Wie konnte er es wagen, mit Fürst Gerhart über meine Fehler zu sprechen.“

„Nein Anselm, Du hast ihnen zu dienen. Und die Ratsleute haben dich zu kontrollieren. Außerdem hast Du Ihnen immer häufiger nicht die Wahrheit gesagt!“

„Dazu bin ich nicht verpflichtet, wie kannst Du es wagen…“

Mit einem lauten Knall hüllte abermals dichter Nebel Anselm ein. Als dieser sich verzog, fand er sich in der Schatzkammer des Ratsschlosses wieder. Er saß auf einer Truhe, die sich plötzlich öffnete und mit blecherner Stimme sprach:

„Ich habe Dich erwartet Anselm.“

Anselm sprang auf: „Lass mich raten, du bist der Geist der Zukunft. Und was ist hier passiert? War die Schatzkammer nicht einst viel voller?“

„Findest Du denn, dass im Schloss Schätze liegen sollten, während Schulen fehlen und Pfade verfallen?“

„Was Du mich immer belehrst. Wo ist mein Schatz geblieben?“, Anselm ward immer mehr genervt.

„Es ist nicht DEIN Schatz. Es ist der Schatz der Bürger!“, widersprach die Truhe, „sieh raus auf die Straße und sieh Dir an, wie die Kinder sich freuen und wie liebevoll die Bürger miteinander umgehen.“

Anselm lugte durch das kleine runde Fenster der Schatzkammer nach draußen. Kinder spielten Ball, ehemalige Bärenländer und Alt-Burgenländer diskutierten und lachten.

Ein weiterer plötzlich auftretender Nebel lichtete sich und Anselm fand sich im Ratskeller wieder. Der Wirt und alle Ratsleute saßen an verschiedenen Tischen. Sie schimpften und wüteten, tranken und lachten.

„Dann lassen wir das mit der Zugbrücke halt, aber was ist mit den Pferden und der Tränke?“ sprach Ratsherr Frederic laut.

„Du musst halt auch mal nachgeben,“ entgegnete ihm Ratsfrau Carina, „aber über die Tränken können wir gern reden.“

Anselm legte die Stirn in Falten. „Warum sind die hier so freundlich zueinander?“

„Nun, sie haben nach der Pest wieder gelernt, miteinander zu sprechen“, klang es aus der Kiste neben ihm, „im Rat hat nun mal nicht nur einer das Sagen. Jeder hat Ideen und die Ratsleute finden gemeinsam eine Lösung, die du allein gar nicht finden kannst.“

Anselm sank nachdenklich dahin. Ist es vielleicht wirklich besser, mehr mit allen zu sprechen, statt dafür zu sorgen, dass keiner mehr miteinander spricht? Ist es vielleicht wirklich besser, gemeinsam Lösungen zu finden, damit alle zufrieden sind?

Anselms Blick ging durch den Ratskellerraum und ihm wurde klar, dass er als Burgherr vielleicht doch nicht alles allein machen kann. Sein Blick traf den Ratsherr Frederic und es schien ihm, als ob er jetzt doch seinen Blick mit einem Augenzwinkern erwiderte, bevor ein letzter plötzlich auftretender Nebel Anselm wieder in den Sitz in seinem Salon verbrachte.

Mit einem Ruck stand Anselm auf und öffnete die Tür zum großen Saal.

„Liebe Assistentin Lotte, rufen Sie die Ratsleute zusammen und decken Sie den großen runden Tisch. Oder warten Sie, ich koche den Kaffee und mache das, rufen Sie bitte auch die Gelehrten zusammen.“

Assistentin Lotte erschrak und schaute zur Bediensteten Nanine, die ihr gegenübersaß und ebenfalls aschfahl dreinblickte.

„Hat er mich gerade mit ‚liebe Lotte‘ gerufen und gesagt, er kocht den Kaffee selbst?“

Wird Anselm mit den Ratsleuten den Schulterschluss finden und die Probleme Neuenburgs lösen? Wird er sich mit Frederic wieder vertragen? Wird Neuenburg von Fürst Gerhart die Schule doch noch bekommen und wird der Ratskellerwirt weiterhin seine Gäste bewirten?

Fortsetzung folgt…


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